Unter den für Touristen relevanten Verkehrsmitteln ist der Flieger ökologisch besonders fragwürdig. Die Niedrigpreise sogar technisch gut ausgerüsteter Fluglinien sind sehr verlockend. Man spart Zeit und Geld. Aber man sollte das Thema Klimakatastrophe dabei nicht völlig verdrängen. Billigflieger nutzen Wirtschaftssubventionen und hinterlassen kommenden Generationen offene Rechnungen. Ein Flug verursacht mehr Emissionen als mancher Personenkraftwagen im Jahr. Laut Germanwatch entspricht die klimaschädliche Wirkung einer Flugreise in die Karibik 80 Jahren Kohlendioxid-Emission im Alltag eines Ostafrikaners.
Manch einer düst mit seinem Fahrrad im Frachtraum nach Neuseeland und hält die Emissionswerte seiner Tage im Zielgebiet für eine Heldentat. Zumindest sollte die Aufenthaltsdauer in einem vernünftigen Verhältnis zur Entfernung stehen. Dabei kann eine gemächliche An- und Abreise ein wesentlicher Bestandteil positiver Urlaubserinnerungen sein. Das Shoppingwochenende in New York oder die Silvesterparty am Polarkreis (manche Paaartylöwen bleiben dabei gleich im Flugzeug) sind bei uns nicht zu finden!
Soll man atmosfair ernst nehmen (zumal dieses Substantiv per definitionem klein geschrieben wird)?
"Gut gemeint ist das Gegenteil von gut", witzelte einst Bertold Brecht. Nun, die Reduktion von Schadstoffen ist zweifellos eine ehrenwerte Aufgabe und die Macher von atmosfair identifizieren sich mit diesen Zielen. Trotzdem gibt es Ansatzpunkte zur Kritik ...
Entstehung
atmosfair entstand 2003 als Gemeinschaftsinitiative des Reiseveranstalterverbandes "Forum Anders Reisen" und der Dritte-Welt-Organisation Germanwatch. Seit 2005 arbeitet atmosfair als gemeinnützige GmbH mit Sitz in Bonn.
Schadenskompensation
Grundgedanke auf www.atmosfair.de ist, die beim Fliegen entstehende Treibhausgasemissionen durch die Finanzierung von Klimaschutzprojekten zu kompensieren. Es funktioniert also freiwillig und kann somit sowieso nur Leute erreichen, die mit schlechtem Gewissen fliegen.
atmosfair verspricht beispielsweise, für eine Spende von 19 Euro den Hin- und Rückflug nach Mallorca auszugleichen. Das passiert momentan durch Solartechnik für Großküchen oder Biogasgewinnung aus Abwässern, auf der Homepage ermuntert atmosfair zum Vorschlag neuer Projekte. Wer atmosfair bucht, dessen Geld fließt in seriöse und effektive Projekte.
Fluggesellschaften
Einige Fluggesellschaften springen auf diesen Zug auf und bieten ihren eigenen Ablasshandel an, teilweise direkt bei der Flugbuchung. Die Rechenregeln sind milder als bei atmosfair, die Zuzahlungen fallen also geringer aus und fließen in weniger transparente Kanäle. Wird sich unsere Atmosphäre von diesen Tricks beeindrucken lassen?
Fluggäste
Von 2004 bis 2005 nahm die Fluggästezahl der EU-25-Staaten wie schon im Vorjahr um über 8 Prozent auf nunmehr 705 821 000 zu. Deutschland belegt dabei mit 145 977 000 Fluggästen hinter Großbritannien und vor Spanien den zweiten Platz. atmosfair freut sich über eine Zunahme von täglich 30 Kunden 2006 auf täglich 200 Kunden 2007 (laut Süddeutscher Zeitung vom 5. 3. 2007), eine beträchtliche prozentuale Steigerung. Rechnet man also 70 000 atmosfair-Spender, so entspräche das jedem zehntausendsten EU-Fluggast beziehungsweise jedem zweitausendsten in Deutschland.
Kann man damit die Welt retten? Der Alkoholanteil in Brot oder Sauerkraut ist jedenfalls bedeutend höher ...
Aktienkurse
Hin und wider gibt es zwar auch bei Fluggesellschaften eine Firmenpleite, aber trotz der Klimadiskussion geht die Branche nach wie vor von einem prächtigen Wachstum aus. Unübersehbarer Beleg dafür ist, dass viele Airlines in den letzten Jahren deutliche Aktienkurssteigerungen erzielen konnten.
;-) "atmosfair hat einige kritische Touristen wieder zu Fluggästen gemacht", meint dazu Professor Gamsbert Wolkenschröter vom (wie üblich) staatlich subventionierten Flughafenbetreiber Foolish Profitable.
Bewertung
atmosfair ermutigt möglicherweise einzelne grenzwertig ökobewusste Menschen zum Flug, und falls die Gesamtbilanz überhaupt positiv sein sollte, so hinkt sie jedenfalls dem expandierendem Flugverkehr hoffnungslos hinterher. Sympathisch ist, dass man sich um Transparenz bemüht, außerdem wird die Option Flugvermeidung in eigentlich geschäftsschädigender Weise immer offensiv propagiert.
Zertifikatehandel
Es müsste darum gehen, Schäden zu vermeiden. In der Politik denkt man sich dagegen derzeit komplizierte Modelle aus, um Schäden zu kompensieren. Oft sind zugrundeliegende Rechnungen so unsicher, dass schon beim Streit um die Mathematik einige Jahre vergehen.
Eine gelungene Satire dazu ist www.cheatneutral.com, wo man sich analog zum internationalen Verschmutzungszertifikatehandel seine Seitensprünge durch die Treue anderer erkaufen kann. Ebenfalls originell ist die Idee auf www.thecompensators.org, wo Verschmutzungszertifikate gekauft und einfach vernichtet werden sollen.
Mogelpackung
In der Schweiz gewann der Begriff Klimakompensation das Rennen um das "Unwort des Jahres 2007", weil in den Augen der Jury der Begriff einen Lösungsansatz suggeriert, der in Wahrheit eine Mogelpackung sei.
Alternativen
Wichtiger als eine freiwillige Klimakompensation eines marginalen Bruchteils von Flugreisenden wäre, politische Weichen stärker in Richtung Nachhaltigkeit zu stellen. Es gibt unabhängige Organisationen, die mit allen ihren Kräften dieses Ziel verfolgen. In Deutschland sind das beispielsweise die Grüne Liga und Robin Wood, etwas moderater auch der Verkehrsclub Deutschland (VCD) und der Naturschutzbund Deutschland (NABU). Eine derartige Organisation zu unterstützen, bringt wahrscheinlich mehr als die simple Kompensation von ein paar Minuten Schadstoffausstoß. Jeder Austritt aus dem Landschaftsbetonierverein ADAC wäre auch schon ein guter Schritt ...
Geschenkabo
Manche Reisebüros beteiligen sich an den atmosfair-Spenden ihrer Kunden. Unsere Agentur "Wege nach Osten" verschenkt stattdessen auf Anfrage Jahresabos von Mitgliederzeitschriften ökologisch orientierter NGOs.
Fazit
Was also sollen Sie tun? Natürlich sich von uns bei Ihrer Reiseplanung beraten lassen ... vielleicht ist es möglich, Ihre Ferienwünsche in Europa zu realisieren und eine gemächliche Fortbewegung zu einem angenehmen Urlaubsbestandteil zu machen ...
Wenn Sie auf den Ablasshandel beim Flugverkehr eingehen wollen, dann sollten Sie das zumindest direkt bei atmosfair tun.
Zeitungsartikel
- Khue Pham: Kuhhandel mit Seitensprüngen, in Spiegel vom 14. 7. 2007
- Jens Lubbadeh: Ablasshandel mit Bäumen, in Stern vom 21. 6. 2007
- Elisabeth von Thadden: Dürfen wir noch fliegen?, in Die Zeit vom 15. 3. 2007
- Antje Homburger: Reiseverband fordert "3-Liter-Flugzeug", in Spiegel vom 5. 3. 2007
- Martin Wein: Besser als nichts, in Die Zeit vom 1. 2. 2007
- Anne-Dore Krohn: Ablaß für Abgas, in FAZ vom 26. 9. 2006
- Michael Krätke: Reichlich Geld für eine andere Welt, in Freitag vom 3. 5. 2006