Bahnstrecke von Mukatschewe nach Stryj, hier in der Nähe des Karpatenpasses bei Skole

Die Entdeckung der Ukraine (Fairkehr 1998)

Michael Adler, Chefredakteur der Fairkehr (Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen), 1998
Fotos im Heft: Sonnenuntergang in der Neumark, der größte Tatrasee Morske oko, Paar vor einem ukrainischen Holzhaus, Eisverkäuferin im Lemberger Bahnhof, typischer Schlafwagenzug in der Nähe von Worochta, gut markierte Wanderwege in der Tatra, Mönche auf dem Gowerla-Gipfel
Anhang: Tips zur Beschaffung von Visum und Bahnfahrkarte, empfehlenswerte Organisationsbüros in Osteuropa

    Osteuropa bietet hervorragende Voraussetzungen für interessante Entdeckungen, Reisende finden intakte Natur und Menschen mit echter Freundlichkeit. Wer hier Animation sucht, ist fehl am Platz. Wie überall in der Welt besteht allerdings die Gefahr, daß Individualtouristen und Abenteuerreise-Veranstalter zu Wegbereitern unsanfter Entwicklungen werden. "Die Masurische Seenplatte beispielsweise ist inzwischen auch von großen Veranstaltern entdeckt worden, die leider selten darauf achten, den Charakter dieser Gebiete zu pflegen", kritisiert Frieder Monzer. Es entstehen erste Hotelburgen, teilweise ohne Kläranlagen.
    Besucher Osteuropas müssen auf "tout comfort" verzichten, gewinnen allerdings etwas anderes: die Faszination einer Welt, in der Zwischenmenschliches noch nicht in Rubel oder Dollar berechnet wird.

Tee aus dem Samowar

    "Altes Zeug habe ich angezogen, um nicht aufzufallen", berichtet Lore Siebert von ihrer Fehleinschätzung. Die reiselustige Rentnerin erreichte in der tatarischen Hauptstadt Kasan das genaue Gegenteil: "Die Einheimischen waren derart schick, daß sie mir wohl einige Rubel spendiert hätten, hätte ich meine Wollmütze bettelnd aufgehalten." Diebstähle und Pöbeleien, von denen Bekannte aus Spanien und Italien erzählten: im Osten weitgehend Fehlanzeige. Warum also immer gen Süden oder Westen? Richtung Osten ist schon ein paar hundert Kilometer von Deutschland entfernt soviel Exotik zu finden, wie in anderen Himmelsrichtungen erst nach einigen tausend Flugkilometern. Die geringe Anzahl an Hotels und Pensionen mit gewohntem westlichen Standard und die je nach Land unterschiedlich aufwendigen Grenzformalitäten halten den Tourismus derzeit noch in Grenzen.
    Eine bequeme und preiswerte Art der Fortbewegung Richtung Osten stellt die Bahn dar. Viele Fernverbindungen bestehen nur aus Schlafwagen zweiter Klasse, in den Abteilen befinden sich drei oder vier Klappbetten. Die Ausstattung ist mitunter sogar gemütlich, und jeder Waggon hat seinen eigenen Schaffner. Das Tempo entspricht nicht gewohnten IC-Maßstäben, mancher "Expreß" schaukelt abschnittsweise mit 40 km/h dahin. Der Blick aus dem Zugfenster trifft auf weite Landschaften und unbekannte Dörfer, während der Schaffner Tee aus dem Samowar serviert.

Stilvoll in die Karpaten

    Prag, die weltoffene tschechische Metropole, leidet seit dem Fall des eisernen Vorhangs unter Touristenmassen. Für die meisten ist hier allerdings Schluß. Weiter östlich wagen sich die wenigsten Westtouristen vor, obwohl sich die Tatra für Wintersportler zur weniger überlaufenen Aternative zu den Alpen entwickelt. Immerhin reichen die Gipfel im slowakisch-polnischen Grenzgebiet an die 3000 Meter heran. Doch wer wagt sich schon in die Ukraine oder gar in die sprichwörtlich weltabgeschiedenen Karpaten? Eine Tagesreise nur liegt dieses Gebirge hinter Prag.
    Der Dukla-Expreß verbindet Prag mit Lemberg. "Das ist Bahnreisen mit Stil und Atmosphäre, verbunden mit einem Schuß Abenteuer", schwärmt die Berlinerin Andrea Sander, "Teppiche in den Abteilen und Spitzenvorhänge an den Fenstern und die mütterliche Betreuung durch unsere Zugbegleiterin", erinnert sich die Juristin mit leuchtenden Augen, "man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt." Besonderer Leckerbissen nicht nur für Bahnfreaks ist der Grenzübergang von der Slowakei in die.Ukraine. Wegen der größeren Spurbreite in der ehemaligen Sowjetunion wird jeder Zug hochgehoben und bekommt ein anderes Fahrgestell. Der Clou an diesem mehrstündigen Schauspiel: Die Fahrgäste können in den Waggons sitzen bleiben. "Fast archaisch", beschreibt Andrea Sander die Szenerie. "Eisenkräne, Türme, Fabriken und eine Bahnhofshalle prägen das Bild. Ungeheuer viele Menschen machen sich an unserer fahrenden Behausung zu schaffen und bewältigen gelassen die schwere Arbeit."

Fünf Stunden für 150 Kilometer

    Der Potsdamer Reiseleiter Frieder Monzer macht auch gerne mal Umwege. Er überquerte einmal die Waldkarpaten im Bummelzug. Sein Bericht handelt von Menschen, die Zeit haben: "Die Informationstafeln im Bahnhof Mukatschewo, einem ukrainischen Transkarpatenstädtchen, machten keinen übersichtlichen Eindruck. Meine Sprachkenntnisse ermöglichten es aber, einen Bahnbediensteten um Rat zu fragen. 'Ja der Zug nach Strij fährt hier ab', beruhigte er mich, 'in zehn Minuten.' Der Zug sah aus wie die Züge in Filmen aus der Stalin-Zeit, eine schwere Diesellok und grüngraue Waggons. Die geräumigen Innenräume mit Holzbänken waren schon ziemlich voll. Viele Leute transportierten irgendwelche landwirtschaftlichen Produkte, waren als Käufer oder Verkäufer auf Bauernmärkten unterwegs. Mir gegenüber saßen zwei Frauen mit Goldzähnen und schicken altmodischen Blusen. 'Wann werden wir in Strij sein?' fragte ich. 'So gegen 21 Uhr', erklärten die beiden. Ich glaubte, mich verhört zu haben. Fast fünf Stunden für 150 Kilometer. An jedem kleinen Bahnhof befand sich ein weiterer Bauernmarkt, stiegen Leute mit Säcken ein und aus. Fahrscheinkontrolle! Ich suchte nach kleinen Dollarscheinen und überlegte mir eine gute Begründung dafür, daß ich noch keinen Fahrschein hatte. Aber die beiden Frauen gegenüber redeten mit dem Schaffner, der guckte mich freundich an, nickte mehrmals und ging weiter. Langsam wurde es bergig, der Zug schraubte sich höher. Am Anfang und Ende jedes Tunnels ein Armist mit Gewehr, wahrscheinlich ein Relikt ans Kriegszeiten; heute eher eine Art ABM-Maßnahme. Allmählich wurde es dunkel. Für die Weiterfahrt stand vor dem Bahnhof Strij ein kleines Sammelsurium an Taxis bereit, wahrscheinlich nicht alle offiziell registriert und nicht alle technisch einwandfrei."
    Wer neben Natur auch ukrainisches Stadtleben kennenlernen will, der sollte den Aufenthalt in Lemberg, ukrainisch Lwiw, russisch Lwow, unbedingt einbauen. Von Strij ist es nicht mehr weit bis Lemberg, immerhin eine 850 000-Einwohner-Metropole. Von 1772 bis 1918 war die West-Ukraine unter dem Namen Galizien Bestandteil der Habsburger Monarchie, Lemberg selbst ein Zentrum osteuropäisch-jüdischer Kultur. Günstig am Kreuzungspunkt vieler Verkehrswege gelegen, verfügt die Stadt über Verkehrsverbindungen in viele schöne Landschaften; beispielsweise in die Waldkarpaten.

Ukrainische Gastfreundschaft

    Der Name allein signalisiert Abgeschiedenheit. Ohne Sprachkenntnisse sind die Waldkarpaten für Individualreisende nicht zu empfehlen. Zumindest mit kyrillischen Buchstaben sollte man etwas anfangen können. Da brauchbare Reisebücher und Prospekte rar sind, findet man viele attraktive Stellen sowieso nur mit ortskundigen Begleitern. Zum Glück sind die Ukrainer sehr kontaktfreudig und hilfsbereit. "Die Herzlichkeit unserer Gastgeber und die Unberührtheit der Karpatentäler übertrafen alle Erwartungen", berichtet etwa die erfahrene Osteuropareisende Claudia Kuntze, "auch nachts habe ich mich auf den Dorfstraßen absolut sicher gefühlt. Selten wurde ich so verwöhnt, sogar zu einer Dorfhochzeit völlig unbekannter Leute bin ich eingeladen worden."
    Museumsführer, Taxifahrer, Marktfrauen, sie alle sind potentielle Gastgeber für ausländische Touristen. Ganz schnell findet man sich an der festlich gedeckten Familientafel wieder. "Hier ist Fingerspitzengefühl nötig", mahnt Frieder Monzer, "wer sich einladen läßt, sollte prinzipiell auch zur Gegeneinladung bereit sein."

Mit der Bahn in Draculas Reich

    Als Verkehrsmittel zwischen Lemberg und den Waldkarpaten bietet sich wieder die Bahn an, eine Linie führt direkt in den Karpaten-Nationalpark. Er besteht zu 76 Prozent aus Wald, hier liegt der höchste Berg der Ukraine, hier entspringen die Flüsse Prut und Theiß. Dorfstraßen sind noch keine Verkehrsschneisen, sondern hauptsächlich Lebensraum von Menschen und Haustieren. Fast jede Familie in den ländlichen Gegenden bewohnt ihr eigenes Häuschen, besitzt Geflügel und eine Kuh. Die unverbauten Flüsse, die dichten Wälder, die bemoosten Felsen, sie erinnern wirklich an manchen Dracula-Film. Eigentlich haust der Vampirfürst ja erst hinter der Grenze zu Rumänien, aber die ist nicht mehr weit.

Auf den Gipfel des Gowerla

    Natürlich kommen Bergwanderer in den Karpaten auf ihre Kosten. Anfang September 1996 betreute Frieder Monzer eine deutsche Touristengruppe in den Waldkarpaten. In der Siedlung Worochta, mitten im ukrainischen Karpaten-Nationalpark, hatten Monzers ukrainische Freunde Olga Kusewitsch und Igor Diditsch die Gruppe untergebracht. Der Gipfel des Gowerla stand auf dem Programm. Mit knapp über 2000 Metern Höhe ist der Gowerla der höchste Berg in der größtenteils flachen Ukraine, entsprechend überhöht ist seine symbolische Bedeutung.
    Nach mehreren Tagen mit naßtrübem Wetter setzte die Gruppe an einem trockenen Morgen zum Gipfelsturm an. Sicherheitshalber hatten Olga und Igor noch mehrere Bergführer der Nationalpark-Verwaltung angeheuert. Die Sicht wurde schnell schlechter. Oberhalb der Baumgrenze stießen die Bergwanderer plötzlich auf eine geschlossene Schneedecke. "Ich drängte zum Rückzug", berichtet Monzer. Aber Olga und Igor waren nicht mehr zu bremsen, und einige Reiseteilnehmer packte der sportliche Ehrgeiz. Schließlich wurde der Schnee kniehoch, die Sichweite betrug nur noch wenige Meter, alle stapften brav in einer Reihe durch den immer heftiger werdenden Schneesturm nach oben. Plötzlich tauchte aus dem Schneetreiben das Gipfelkreuz auf und Olga stimmte die ukrainische Nationalhymne an. "Wieder zurück im Tal hatten Olga und Igor es in unglaublicher Geschwindigkeit gesafft, uns in einem zunächst verschlossen und menschenleer wirkenden Touristenheim reichlich Tee zu bereiten", lobt der leicht verärgerte Reiseleiter seine Freunde. Keiner der Teilnehmer habe sich im übrigen über das Abenteuer beschwert. Auch die einheimische Bevölkerung wertete das Schneetreiben als außergewöhnlich. 1996 sei der zeitigste Wintereinbruch in den Waldkarpaten seit dreißig Jahren gewesen.
    Auch Monzers zweite Gowerla-Besteigung bescherte ihm keine gute Sicht, aber wieder ein besonderes Erlebnis. "Kurz nach mir", erzählt er, "erreichte eine Gruppe von Mönchen aus Zhovka den Gipfel. Die Männer unterschiedlichsten Alters postierten sich vor dem Gipfelkreuz und hielten einen orthodoxen Gottesdienst ab, tiefe Stimmen drangen durch die Nebelschwaden." Bei der dritten Besteigung endlich wurde die Schönheit der weitläufigen Berglandschaft sichtbar ...

Der Bahnhof Worochta

    Worochta liegt mitten im Karpaten-Nationalpark und verfügt über einen Bahnhof, ist also ein idealer Standort für „Sanften Tourismus". Allerdings finden Einzeltouristen keine Übernachtungsmöglichkeiten nach deutschen Maßstäben, entweder sie schließen sich einer Reisegruppe an oder müssen recht spartanisch ausgestattete Quartiere akzeptieren. "Eine kleine Pension in Worochta würde viele Gäste finden", ist sich Igor Diditsch sicher. Er würde gern ins Tourismusgeschäft einsteigen. Was dem gelernten Geophysiker fehlt, ist das Startkapital. Sein Arbeitgeber ist mit der Zahlung des Gehaltes schon acht Monate im Rückstand, derzeit eher Regel als die Ausnahme in der Ukraine.
eher Regel als die Ausnahme in der Ukraine.
    Dietmar Krieger und Jochen Vielhauer, der eine Gärtner in Eutin, der andere Chemiker in Dresden, haben in Monzers Gruppe schnell ihre gemeinsame Leidenschaft entdeckt: Die eingefleischten Eisenbahnfreaks kannten schon am zweiten Tag den Fahrplan von Worochta auswendig. Umso größer war die Aufregung, als sie einen näherkommenden Personenzug nicht einordnen konnten. Er paßte weder von den Waggontypen noch von der Uhrzeit ins Schema, löste heftige Diskussionen aus, mußte natürlich erst einmal fotografiert werden. Zwei große Lokomotiven vom Typ "Taigatrommel" zogen 17 der landestypischen Fernstrecken-Schlafwagen. Auf dem Bahnhof konnten Dietmar und Jochen dann ziemlich schnell erraten, daß es ein Sonderzug mit Kindern war, für deren weitere Verteilung auf Ferienlager die auf dem Vorplatz stehenden Busse sorgten.
    Auf diesem Bahnhofsvorplatz findet täglich ein kleiner Markt statt, selbst am Wochenende. Meistens verkaufen Bauersfrauen den in Hof und Garten erzeugten Überschuß, auch allerhand Haushaltsramsch gibt es. Und natürlich Kwas. Das Getränk entsteht aus vergorenem Brotteig und enthält Alkohol, schmeckt malzig und wirkt erfrischend. Allerdings wird Kwas auch in den Karpaten zunehmend durch westliche Marken ersetzt. Rund um den Bahnhof gibt es eine Menge Tante-Emma-Läden und ein Straßencafé. Der kräftige Straßenkaffee kostet derzeit etwa 40 Pfennige.